- Schelling
Schelling, Friedr. Wilh. Jos. von, einer der einflußreichsten Philosophen unserer Zeit, häufig aber jedenfalls mit Uebertreibung der deutsche Platon genannt. geb. 1775 zu Leonberg bei Stuttgart, kam schon mit 15 Jahren ins protestant. Stift nach Tübingen, wo er mit Vorliebe Philologie und Mythologie, namentlich aber die Kantʼsche Philosophie studierte u. schon 1793 als philosoph. Schriftsteller auftrat. Nachdem er kurze Zeit als Erzieher in Leipzig gelebt hatte, wurde er in Jena Fichtes Schüler und Mitarbeiter, trat nach Fichtes Abzug von Jena selbst als Docent der Philosophie auf u. begann seine eigenen Ansichten zu entwickeln, wobei er sich immer mehr von denen seines Meisters entfernte. Gleichzeitig gab er eine Zeitschrift für speculative Physik u. mit Hegel, den er neben Hölderlin u.a. schon im Stifte zu Tübingen hatte kennen lernen, ein kritisches Journal für Philosophie heraus. 1803 wurde er Professor der Philosophie zu Würzburg, 1808 Mitglied der Akademie der Wissenschaften u. Generalsekretär der Akademie der bildenden Künste zu München, wo ihn der König von Bayern auch in den Adelstand erhob. Unangenehme Verhältnisse bewogen ihn, 1820 als Professor nach Erlangen zu gehen, aber 1827 kehrte er nach München als Professor der neu errichteten Universität zurück und wurde später Präsident der Akademie der Wissenschaften sowie Conservator der wissenschaftlichen Sammlungen. S. zehrte von seinem früheren Ruhme; er ließ die Gegner seiner philosophischen Entwicklungsstadien ohne Antwort und das wiederholte Versprechen, seine Philosophie im systematischen Zusammenhange darzustellen, ohne Erfüllung. Nachdem er 1841 aber einem Rufe nach Berlin Folge geleistet; mußte er sein langjähriges Schweigen brechen u. trug im Winter 1841.42 seine sog. Philosophie der Offenbarung vor, die sehr gegen seinen Willen der alte Paulus in Heidelberg nach einem Collegienheft veröffentlichte und unbarmherzig durchhechelte. Von den früheren Freunden verschrien, als ob er auf das Recht des freien Gedankens verzichtet habe u. zum Scholastiker geworden sei, der positivchristliche Glaubenssätze mit den längst abgenutzten Wortspielereien der mittelalterlichen Dialectik anfülle, bei den Offenbarungsgläubigen aber im Mißkredit. weil er mit seiner »positiven Philosophie« niemals herausrückte, st. er am 20. August 1854 im Bade Ragaz im Schweizerkanton St. Gallen. Vergleicht man die Leistungen Platons und S.s mit Rücksicht auf die Zeit. in der jeder lebte, sowie auf den Stand der Wissenschaften, den jeder vorfand, so steht S. trotz seiner unläugbaren Gedankenfülle und Gedankentiefe weit unter dem Hellenen; ähnlich ist jedoch S. demselben, insofern er niemals ein fertiges und geschlossenes System schuf, sondern in seinen Schriften die Geschichte seiner Bildungsstufen niederlegte, ferner im Anknüpfen an vorangegangene Philosophen, nicht minder im dichterischen aber häufig auch unklaren Charakter der Schreibart, endlich in der begeisterten Aufnahme. die er fand, in der Zahl seiner Schüler, sowie in dem Einflusse, den er dadurch auf den Gang der wissenschaftlichen Entwicklung ausübte. S.s Blütezeit fällt in die Jahre 1795–1812, in welchen er auch die meisten und besten seiner Schriften verfaßte und als Herold der Philosophie der romantischen Schule dastand. Unter der großen Zahl seiner Schriften nennen wir: über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt (1795), vom Ich als Princip der Philosophie (1795), Deduction des Naturrechts (1796). Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), die Weltsee le (1798), erster Entwurf eines Systems des transcendentalen Idealismus (1800), Darstellung eines Systems der Philosophie (1801). Bruno (1802), Methode des akademischen Studiums (1803), Philosophie u. Religion (1804), Untersuchungen über die menschl. Freiheit (1809), die Gottheiten von Samothrake (1815); die Gesammtausgabe, deren 1. Bd. bei J. G. Cotta in Stuttgart und Augsburg im Frühling 1856 herauskam, wurde aber mit noch bis her ungedruckten philosophischen Werken (Einleitung in die Philosophie der Mythologie, Monotheismus, Philosophie der Mythologie, Philosophie der Offenbarung, über den Gegensatz der negativen und positiven Philosophie) eröffnet u. wird auch enthalten, was S. als der Dichter »Bonaventura« leistete. S. besaß die Anlagen eines Mystikers und Dichters; dies verleiht all seinen Schriften einen ganz andern u. unläugbar schönern Charakter als denen Hegels, u. zudem ist S. in den verschiedenen Stadien seiner Entwicklung als Philosoph im Ganzen mehr ein Repräsentant seiner Zeit gewesen als jener. Gewöhnlich unterscheidet man bei ihm 5 solcher Stadien, nämlich 1) den Hervorgang aus Fichte; 2) die Natur- und Transcendentalphilosophie; 3) die Periode des Spinozismus od. der Indifferenz des Realen und Idealen; 4) die mystische. an den Neuplatonismus sich anknüpfende Wendung u. 5) Versuch einer Theogonie und Kosmogonie nach Jakob Böhme; künftig wird man als 6. Periode die der positiven Philosophie berücksichtigen müssen, um so entschiedener, falls dieselbe auf einer Rückkehr der S. schen Vernunft zum positiven Glauben wirklich beruht u. je mehr er alsdann auch hierin als ein Chorführer der Zeit erschiene. Hinsichtlich des Inhaltes der S. schen Philosophie war der Grundcharakter derselben von vornherein Pantheismus und ist es durch alle 5 bekannten Stufen der geistigen Entwicklung des Philosophen geblieben, obwohl ihm nachgerühmt werden muß, daß er beständig strebte, aus dem Pantheismus heraus in den Theismus zu gelangen, was freilich nie gelingen wird, so lange man von voraussetzungslosen Philosophien träumt und lediglich reinphilosophische Wege einschlägt. Schon im ersten Stadium, nachdem S. kaum die Nothwendigkeit eines obersten Grundsatzes in der Philosophie, den Fichte zum erstenmal aufgestellt habe, nachzuweisen versucht hatte, philosophirte er darüber, wie ein u. dasselbe Absolute in der Natur wie im Geiste erscheine. wie in den Stufenfolgen der Naturgebilde alle Stationen des Geistes auf seinem Wege zum Selbst, bewußtsein äußerlich fixirt würden, wie die Natur an der Weltseele ein eigenes ihr innewohnendes und begriffsmäßig wirkendes Princip habe und wie die Anschauung das Organ des Geistes für die Erfassung der Natur sei. In seiner Naturphilosophie suchte S. 1) zu beweisen. die Natur sei in ihren ursprünglichsten Produkten organisch; 2) die unorganische Natur bloß Masse, durch die Schwerkraft zusammengehalten, aber doch auch mit Abstufungen in der Art, daß dem Bildungstrieb, der Irritabilität u. Sensibilität der organischen Natur der chemische Proceß, die Electricität und der Magnetismus entsprächen; endlich schwebe 3) über der organischen und anorganischen Natur, beide beherrschend, trennend u. verbindend die Weltseele. Nothwendiges Gegenstück zur Naturphilosophie, inwendig gewordene Naturphilosophie, ist die Transcendentalphilosophie; diese geht als theoretische Philosophie vom höchsten Princip des Wissens, vom Selbstbewußtsein aus und behandelt die Geschichte desselben nach ihren Entwicklungsstufen. Mit dem Willensakt wird die praktische Philosophie eröffnet, die das mit Bewußtsein producirende Ich und die dadurch hervorgehende zweite Natur behandelt. Am meisten Interesse erweckt hier S.s Geschichtsanschauung. Die Geschichte als Ganzes ist ihm eine allmälig sich enthüllende Offenbarung des Absoluten oder Gottes und hat 3 Perioden, nämlich die des blinden Schicksals (alte Welt bis zur röm. Weltherrschaft), des Naturgesetzes und die der Vorsehung als der Einheit von Schicksal und Natur. Die höchste Wissenschaft aber ist die Philosophie der Kunst. denn die Kunst hebt den Zwiespalt zwischen Object und Subject. Natur und Geist auf; sie ist die einzige und ewige Offenbarung, die es gibt, im Kunstwerk gelangt die Intelligenz zur vollkommenen Selbstanschauung u. Selbstbefriedigung. Gott selber ist unmittelbarer Gegenstand der ästhetischen Anschauung. – Hatte S. schon bisher großartig gewirkt, wäre es auch nur durch Neubelebung des einzigen genialen Gedankens gewesen, daß die materielle Welt nicht starr u. todt, sondern eine lebendige Fortentwicklung zu höheren u. ideelleren Stufen sei, so wurde er in seiner 3. Periode mit der Identitätsphilosophie vollends zur philosophischen Pythia, deren Orakelsprüche eine Menge ebenso talentvoller als gläubiger Schüler annahmen, verbreiteten, anwendeten: Steffens, Oken, Troxler, Schubert, Ast, Solger, Eschenmaier, Hegel, Rixner u.s.f. Die Identitätsphilosophie aber lehrte: die Vernunft ist das Absolute, alles ist in ihr u. nichts außer ihr, in ihr sind Subject u. Object, Unendliches und Endliches, Geist und Materie u.s.f., kurz alle Gegensätze in absoluter Identität enthalten. Durch die intellectuelle Anschauung aber erkennen wir die Dinge, wie sie in der Vernunft sind; diese gibt absolute Erkenntniß und lehrt, daß die Gegensätze von Unendlichem und Endlichem, Denken und Sein. Geist und Materie, Gutem und Bösem für die wahre Betrachtung gar nicht vorhanden sind; ferner daß die alltägliche Annahme, es gebe außer der Vernunft noch an u. für sich seiende Dinge, lediglich die Folge falschen Vernunftgebrauches ist. Im großen Ganzen existirt die Identität des Idealen u. Realen in der Form der Indifferenz, die absolute Indifferenz stellt sich als Subject sich selber als Object gegenüber und so entsteht ein doppeltes Reich der Dinge. ein ideales u. reales. In diesem Doppelreich aber herrscht ein stetiger Entwicklungsproceß nach bestimmten Gesetzen, wodurch die Dinge zu immer höhern Graden der Indifferenz (Potenzen) sich emporarbeiten; alle Unterschiede zwischen den einzelnen Dingen aber beruhen darauf, daß eben das eine mehr oder weniger Subject oder Object ist als das andere. Vorherrschend als Object erscheint das Reale, vorherrschend als Subject das Ideale, vermöge der intellectuellen Anschauung aber sind wir im Stande die Welt zu construiren oder die im Universum verwirklichten Ideen der absoluten Vernunft nachzudenken, d.h. nachzuweisen, wie in jedem besondern Verhältnisse oder Gegenstand der ganze innere Bau des Absoluten sich wiederholt. S. begann das Construiren in seiner Weise u. brachte heraus, das menschliche Gehirn sei die höchste Blüte der ganzen organischen Metamorphose der Erde, der Mensch eine kleine Welt für sich, welche Geist u. Materie in bewußter Weise vereinigt u. in welcher die allgemeine Vernunft zur Persönlichkeit gelange; ferner das Endliche sei der ewige Sohn Gottes selber, Christus lediglich das vollkommenste menschliche Individuum, ein Haupthinderniß der Vollendung des Christenthums die sog. Bibel u.s.f.; endlich der ideelle Staat sei die Krone aller Geschichte, die Kunst als höchste Einheit von Geist u. Stoff die vollkommenste Offenbarung des Göttlichen. Nach S.s Vorgang begann das Construiren und Nachconstruiren in der Philosophie, am genialsten unstreitig durch Hegel, der sich durch seine Methode vom Meister emancipirte; es wurde auf viele andere Gebiete übergetragen, ein Geist der Forschung nach Einheit, Organismus u. Harmonie aller Dinge kam auf und stiftete viel Gutes, nebenbei aber auch viel Schlimmes, da jeder sich einbilden und rühmen konnte, im Besitze der weiter unerklärbaren u. unlehrbaren »intellectuellen Anschauung« zu sein und damit aller Willkür Thür und Thor geöffnet war. Wie S. in seiner 4. Periode von der Einheit der Religion und Philosophie redete u. sich in Böhmes Schriften vertiefte; wie er in der 5. von seinem werdenden Gotte loszuwerden strebte, in der Weltgeschichte den Kampf des Bösen mit der Liebe, in Christo das persönlich gewordene Princip der Liebe u. als das Ende aller Geschichte die Herrschaft des Universalwillens sah; wie er endlich in der 6. zur Anerkennung des freipersönlichen, vor der Welt u. ohne sie bestehenden, dreieinigen Gottes übersprang und doch von seinen frühern Ideen viel oder allzu viel beibehielt – für dies alles genügt hier bloße Andeutung.
http://www.zeno.org/Herder-1854.