- Reformation
Reformation, lat.-deutsch, Umgestaltung, Verbesserung, besonders Kirchenverbesserung, im eigentlichen Sinne Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände innerhalb der streitenden Kirche auf Erden, dann die kirchlich-politische Umwälzung des 16. Jahrh., welcher der Protestantismus (s. Protestanten) sein Dasein verdankt. Die Kirche als solche ist keiner R. fähig, denn einerseits gehören zu ihr auch die leidende und triumphirende Kirche im Jenseits, anderseits sind die Glaubens- und Sittenlehren, die Heilsmittel, die Lehr-, Priester- und wesentlich auch die Regierungsgewalt der streitenden Kirche auf Erden auf unmittelbare göttliche Einsetzung und fortdauernde göttliche Einwirkung gegründet. In dieser Hinsicht hat der Christ sich der Autorität der Kirche lediglich zu unterwerfen und zu gehorchen. Vgl. Kirche. Wie aber das Christenthum selbst auf die großartigste weltgeschichtliche R. des Menschengeschlechtes hinausläuft, so sind R.en innerhalb der streitenden Kirche von jeher möglich, wirklich und nothwendig gewesen, erstens weil ihre Mitglieder, sowohl Kleriker als Laien, dem Irrthum u. der Sünde unterworfene Menschen sind, deren gemeinsame Hauptaufgabe darin besteht, möglichst vollkommene Christen erst zu werden; zweitens weil die Kirche als Gesellschaft in der Weltgeschichte sich aus kleinen Anfängen allmälig großartig entwickelte, wobei aber manche keineswegs auf göttlicher Einsetzung beruhende, bei neubekehrten Völkern vorgefundene und berücksichtigte oder durch Zeit und Umstände geschaffene Einrichtungen im Laufe der Zeit veralteten und verdarben und mitunter zu Zuständen ausschlugen, deren Umwandlung oder Beseitigung von der Idee der Kirche selbst am dringendsten gefordert wurde. Reformiren kann u. soll aber nur die Kirche selbst; sie kennt am besten die Kluft, die sich da od. dort zwischen dem, was grundsätzlich sein soll u. dem was wirklich ist, aufgethan hat, nicht minder den Zusammenhang, in welchem alle Zustände u. Einrichtungen des kirchlichen Lebens miteinander stehen; ferner hat sie durch ihre Gesetzgebung früh genug Mittel und Wege geschaffen und bekannt gemacht, um Reformen durchzuführen, endlich sind die Gläubigen ihr zum Gehorsam im Gewissen verpflichtet. Wie sehr reformatorische Bestrebungen in der Kirche sich geltend machten, je mehr dieselbe sich ausbreitete, in der Geschichte der Völker Wurzeln schlug und je leichter Mißstände, namentlich Schlaffheit u. Verweltlichung des Klerus da od. dort sich einschlichen, lehrt die Kirchengeschichte auf vielen ihrer Blätter. Unter den sehr zahlreichen Synoden sind nicht viele, wo keine reformatorischen Bestrebungen sich geltend machten, das Zeitalter Gregors VII. war durch u. durch reformatorisch, 1215 erneuerte Innocenz III. das alte Gebot, alljährlich Provinzialsynoden »zur Verbesserung der Sitten, zur Abstellung von Mißbräuchen, besonders an den Geistlichen selbst« und gab in 72 Canones die gesetzlichen Anordnungen, um die kirchlichen u. gesellschaftlichen Zustände zu reformiren, Clemens V. aber erließ für den gleichen Zweck 1311 die sogen. Clementinen. Aus dem Eindringen des Lehenwesens der germanischen Völker in die Hierarchie, aus den langwierigen u. bittern Kämpfen zwischen Kaiser und Papst, aus dem namentlich durch sie herbeigeführten Uebermaß der päpstl. Gewalt gegenüber der bischöfl. erblühten für die kirchlichen und damit für die gesellschaftlichen Zustände der Christenheit wenig Rosen; das sogenannte babylonische Exil der Päpste in Avignon 1309–78 und das große Schisma von 1378–1417 vollendete die Zerrüttung, führte aber auch zu den reformatorischen Concilien des 15. Jahrh.: Pisa 1409, Konstanz 1414–18, Basel 1431–39 und Ferrara-Florenz, die übrigens ihre wahre Aufgabe großentheils nicht begriffen, geschweige befriedigend lösten. In den Ereignissen des 15. Jahrh. liegt der Schlüssel zum Verständniß der Bewegung im 16. Das Auftreten Luthers 1517 war zweifelsohne der Beginn einer neuen Periode der Geschichte, weil es das Signal zu einer Reihe von Bewegungen gab, in Folge deren neben die alte Kirche als die Trägerin des Princips der Autorität sich der Protestantismus als Träger des Princips der subjectiven Freiheit stellte u. Gleichberechtigung erzwang. Bereits 1512 hatte die 5. Lateransynode dem allgemeinen Wunsch aller Bessern jener Zeit Ausdruck verliehen durch die Erklärung, daß eine Reform der ganzen Kirche in den Sitten nothwendig sei, allein Leo X. verkannte hierin seine Zeit, sein reformatorischgesinnter Nachfolger Hadrian VI. starb rasch weg, aus vielen Ursachen wuchs die Zahl derer, welche keine R. innerhalb der Kirche, sondern eine kirchlich-politische Revolution in ihrem Interesse fanden, von Tag zu Tag u. das kostbarste Kleinod der Christenheit, ihre Einheit im Glauben, war verloren, bevor das Tridentinerconcil zusammentreten konnte. Wie viele u. große Uebelstände in der Kirche übrigens vor u. zu Luthers Zeit vorhanden gewesen, geht am unwidersprechbarsten aus den Decreten des Tridentinerconciles (1545 bis 1563) hervor. Dagegen leistete dieses Concil, was für eine wahre R. Noth that; reformirte und neuerstehende Orden: Jesuiten, Theatiner, Barnabiten, Oratorianer und Mauriner, Karmeliter und Piaristen, die Ursulinerinen, barmherzige Brüder und Schwestern u.a.m. halfen die R. ins Leben einführen, der Gegensatz des Protestantismus war gleichfalls von reformatorischen Folgen für die Kirche, insofern er mittelbar die kirchliche Wissenschaft zu einem ungeahnten Aufschwunge anregte sowie den Eifer u. die Disciplin des Klerus förderte u. namentlich in Folge der Herrschaft, zu welcher seine Anschauungsweisen in allen Gebieten der Wissenschaft und des Lebens in paritätischen und wohl auch in kathol. Ländern im 18. Jahrh. gelangten, zur Neubelebung des kathol. Bewußtseins in unserer Zeit wesentlich beitrug. Ein weiterer Nutzen, der für die Kirche aus dem Protestantismus erwuchs, liegt darin, daß der Vorwurf von Glaubenszwang, Geistesdämpfung u. dergl. zum Unsinn geworden ist, da es jedermann freisteht, protestantisch zu werden, ohne daß er zeitliche Nachtheile zu fürchten braucht. – Ueber die R. des 16. Jahrh. s. d. Art. Ablaß, Luther, Melanchthon, Calvin, Zwingli, ferner Hugenotten, Lutheraner, Reformirte, dann die Art. über die einzelnen Länder: Deutschland, Preußen, Frankreich, Großbritannien, Dänemark, Schweden, endlich: Dreißigjähriger Krieg. Die Zahl der Schriften über die R. u. Reformatoren des 16. Jahrh. ist eine ungeheuer große (in der Bibliographie biographique universelle, Brux. 1854, sind über M. Luther allein 269 angegeben), doch weitaus die größte Mehrzahl derselben bewegt sich noch immer in den unvereinbar entgegengesetzten Anschauungen, welche ein Protestant kurz also zusammen faßt: »Die Gegner der R. halten sie in ihrem Grunde u. Beginne für ungerecht und anmaßend, in ihrem Wesen für gehaltlos u. unbefriedigend, in ihren Wirkungen u. Folgen für die Quelle zahllosen Unheiles; denn sie sei, sagen sie, eine revolutionäre Auflehnung gegen die legitime Gewalt gewesen, sie habe ihren Grund im Eigendünkel und in der Selbstsucht der Reformatoren gehabt, sie habe nur zur Folie für die Erreichung sinnlicher Zwecke und dem Streben nach Ungebundenheit aller Art gedient; sie habe ferner der Religiosität allen Grund genommen u. ein willkürliches Glaubenssystem an deren Stelle gesetzt; sie habe endlich einen Geist des Widerspruchs, der Anmaßung und der Neuerung erzeugt, welcher die Quelle aller der folgenden Greuelscenen der Geschichte sei, ja sie habe geradezu die Völker in Opposition gegen ihre Regierungen gestellt und einen revolutionären Geist unter ihnen verbreitet. Die Verehrer und Anhänger der R. behaupten dagegen, daß sie ein deutliches Zeugniß der göttlichen Vorsehung u. unter dem Schutze des göttlichen Geistes entstanden u. fortgegangen sei; daß sie den Grund alles Großen u. Schönen in sich trage, das seit ihrem Beginne in der Geschichte sich entwickelt habe; daß sie demnach das segensreichste Ereigniß der neuern Zeit und daß durch sie allein ein Fortschreiten der Menschheit möglich geworden sei.« Am tiefsten u. geistreichsten wurde die kathol. Auffassung vom Wesen und den Folgen der sog. R. des 16. Jahrh. durch Möhler in dogmatischer, durch I. v. Görres in philosophischer und politisch-socialer Hinsicht begründet u. dadurch die Benennung der R. als der »zweiten Erbsünde« gerechtfertigt. Vgl. hiezu Dr. Binders »Selbstauflösung des Protestantismus«; wie wenig historischen Grund u. Boden die protest. Apotheosen der Reformatoren haben, wies in neuester Zeit namentlich Döllinger meisterhaft nach und wie sehr die schmutzigen und empörenden Hergänge im 16. Jahrh. vertuscht und dafür das Segensreiche der R. übertrieben worden sei, darüber belehren protestant. Geschichtschreiber selber, von denen hier nur Leo und die beiden Menzel genannt sein sollen. Vergl. d. Art. Religionsvereinigung.
http://www.zeno.org/Herder-1854.