- Hessen-Kassel
Hessen-Kassel, Kurhessen, ist 208,9 QM. groß, sehr unregelmäßig gestaltet, mit 4 ganz abgesonderten Bestandtheilen, gränzt deßwegen fast an alle Staaten d. nordwestl. Deutschlands (vgl. Schaumburg u. Schmalkalden), mit dem Haupttheile an Preußen, Waldeck. H.-Darmstadt, Nassau, Frankfurt, Bayern, Weimar, Hannover. Eintheilung in vier Provinzen: Nieder-H., Ober-H., Fulda u. Hanau, ist Hügelland mit Hochflächen und Berggruppen abwechselnd, fleißig angebaut und durchschnittlich fruchtbar, von Fulda, Werra, Main u. Lahn und deren Zuflüssen bewässert. Der Bergbau liefert Eisen, Kupfer, Vitriol. Steinkohlen; H. hat hinlänglich Salz u. mehre Mineralwasser (Schwalheim, Hof- u. Dorfgeismar etc.). Industrielle Plätze sind Kassel u. Hanau, diese sind auch die für den Handel wichtigsten. Die Einv. gehören in der ehemaligen Landgrafschaft der protest. Kirche an, die ehemal. Gebiete von Fulda u. Hersfeld aber sind von Katholiken bewohnt, welche in Fulda ihren Landesbischof haben; außerdem gibt es einige hundert Sektirer u. 8400 Juden. Eine Universität ist in Marburg; für den mannigfachen andern Unterricht sorgen 6 Gymnasien, 2 protest. u. 1 kath. Schullehrerseminar, 1 höhere Gewerbsschule zu Kassel, eine Künstlerakademie zu Kassel, 1 Zeichnenakademie zu Hanau, 19 Handwerkschulen, 1 Militär-, 6 Realschulen, die Elementarschulen in den einzelnen Gemeinden. Das Budget für die Finanzperiode 1852–54 wurde veranschlagt: Ausgaben 13932790 Thaler, die Einnahmen 12475440 Thlr.; die Staatsschuld betrug 1852 beinahe 13 Mill. Thlr., das Staatspapiergeld 21/2 Mill. Thlr.; das Militär zählt 15000 Mann aller Waffengattungen. H.-Kassel ist eine Monarchie, Kurfürst ist seit 1847 Friedrich Wilhelm I., geb. 20. Aug. 1802. Die Verfassung ist nach der gewöhnlichen constitutionellen Schablone eingerichtet. Ritterorden gibt es 4: Hausorden vom goldenen Löwen, Militärverdienstorden, Orden vom eisernen Helm, Wilhelmsorden. Im engern Rathe des deutschen Bundes hat H.-Kassel die 8. Stimme, im Plenum 3 Stimmen. (Vgl. Landau »Beschreibung des Kurfürstenthums H.« 1842; Hildebrand, »statist. Mittheilungen über die volkswirthschaftl. Zustände Kur-H. s« 1853.) Kur-H. ist die ältere Linie des Hauses H., 1567 von dem Landgrafen Wilhelm IV. gestiftet. Im 30jähr. Kriege verkaufte sich H.-Kassel in der letzten Zeit an Frankreich u. gewann im westfäl. Frieden 1648 Schaumburg und Hersfeld; im 7jähr. Kriege stand es auf Seite Preußens; im nordamerikan. Unabhängigkeitskriege lieferte Landgraf Friedrich II. den Engländern 22000 Hessen als Soldaten, wofür er viele Millionen Thaler (21 nach Schlosser) einnahm. Von 1785–1821 reg. Landgraf Wilhelm IX., der 1803 Kurfürst wurde; 1806 erklärte er sich neutral, stellte jedoch 17000 M. auf, wofür ihn Napoleon nach dem Kriege vertrieb und H. zum Königreich Westfalen schlug. Nach der Schlacht von Leipzig kehrte der Kurfürst wieder zurück u. stellte den ganzen Zustand von 1806 wieder her. Die Landstände wurden 1815 u. 16 einberufen, zuletzt aber, ohne daß ein Landesgesetz mit ihnen zu Stande gekommen wäre, wieder heimgeschickt u. nie mehr einberufen. Unter seinem Nachfolger Wilhelm II. (1821–1847) brachen im Sept. 1830 in Kassel Unruhen aus, in Folge deren die Einberufung von Land ständen und die Errichtung von Bürgergarden stattfand, die Unruhen wiederholten sich aber wegen der kurfürstlichen Mätresse Reichenbach (zur Gräfin R. Lessonitz erhoben), der Kurfürst verließ Kassel und ernannte den Kurprinzen Friedrich Wilhelm zum Mitregenten, der seitdem thatsächlich allein regierte. Im Jan. 1831 wurde eine constitutionelle Verfassung vereinbart, als aber die Landstände der Regierung die Richtung vorzeichnen wollten, begannen auch in Kur-H. jene Zerwürfnisse, welche die Constitutionen der deutschen Kleinstaaten als eitel Spiegelfechterei erscheinen ließen und dieselben in den Augen des Volks discreditirten. Dazu kam bei dem Erlöschen d. Seitenlinie H.-Rothenburg ein neuer Hader, indem die Stände die Nachlassenschaft für den Staat, der Kurfürst für sein Haus verlangte. Erst 1842 brachte die Regierung eine Kammermehrheit für sich zu Stande; sie trat nun bis 1848 mit größerem Aplomb auf, wurde aber durch die hereinbrechende Märzbewegung nicht nur um die errungenen Vortheile gebracht, sondern mußte die Verfassung von 1831 durch Zusätze vermehren lassen, welche die Regierung thatsächlich den Ständen und Beamten in die Hände gab. Im Jahr 1850 wollte das Ministerium Hassenpflug das Kurfürstenthum aus d. preuß. Unionspolitik herausziehen, die Stände aber wollten von dem ganzen Ministerium nichts wissen und ihre Auflösung nützte nichts, indem die neue Versammlung noch weiter ging und im Aug. die directen Steuern verweigerte. Sie wurde abermals aufgelöst; nun versagten aber fast alle Beamten der Regierung den Gehorsam, worauf diese am 13. Sept. Kassel verließ und die Bundeshilfe anrief. Am 1. Nov. rückte ein starkes bayer.-österr. Corps unter dem Fürsten Taxis ein, von der andern Seite aber ein preußisches; die Conferenz von Olmütz verhinderte jedoch den unausbleiblich scheinenden Zusammenstoß, die Preußen zogen ab und die Regierung schritt unter dem Schutze des Bundes zu den nothwendigen Maßregeln und Reorganisationen. Daß die Occupation des Landes durch unverhältnißmäßige Truppenmassen ungeheure Opfer auflegte und den Staat fast finanziell ruinirte, versteht sich wohl von selbst, aber eben so gewiß tragen die Stände durch ihren absoluten Widerspruch gegen die Regierung, und die Beamten, welche »in Schlafrock und Pantoffeln«, d.h. durch einfachen Ungehorsam gegen die Regierung das Regieren unmöglich machten, die Hauptschuld an dem Unheil, von der sie kein Paragraph der Verfassung von 1848 freisprechen kann. (Rommel, Geschichte von Hessen, 8 Bde., 1820–43.)
http://www.zeno.org/Herder-1854.