Voltaire

Voltaire

Voltaire (Woltähr), François Marie Arouet de, ein reichbegabter Geist voll Witzes, aber zugleich der fleischgewordene Ausdruck der religiös-kirchlichen Verkommenheit und sittlichen Frivolität des vorigen Jahrh., bis heute entschieden einer der fruchtbarsten, witzigsten und einflußreichsten Schriftsteller, geb. 1694 zu Chatenay bei Sceaux, studierte bei den Jesuiten, die ihn frühzeitig durchschauten, sollte Advokat werden, wurde aber zu Versailles u. Paris durch den Abbé Chateauneuf bei der Ninon de l'Enclos u. in den höhern Regionen der Gesellschaft eingeführt, durch seinen sprühenden Witz und Geist, durch Dichtungen u. Streiche bald zu einem Löwen des Tages. Ein Pamphlet auf Ludwig XIV. brachte ihn in die Bastille, sein Oedipus, die Mariamne u.s.f. verriethen ein hervorragendes Dichtertalent, und hatten in Paris bedeutenden Erfolg, namentlich wegen den darin angebrachten Ausfällen und Hieben auf die bestehende Ordnung der Dinge, vor allem auf die Geistlichkeit. Aus Frankreich 1720 verwiesen, wurde er in Holland und England mit den berühmtesten »starken Geistern« der Zeit vertraut und veröffentlichte 1723 zu London sein Meisterwerk, die Henriade. Das Ecrasez l'infâme war bereits zur Losung seines Lebens und Strebens geworden, er blieb derselben getreu und erlebte den Triumph, daß der Spott auf alles Heilige gewissermaßen zur Modesache und an sich mittelmäßige Theaterstücke, die in den 30er Jahren des Jahrh. selbst zu Paris bereits keinen Erfolg gehabt hatten, 30 und mehr Jahre später mit Enthusiasmus in den meisten Städten Frankreichs aufgeführt wurden, nur weil sie kirchenfeindlich u. revolutionär waren. Eine genaue Aufzählung seiner literarischen Fehden oder auch nur seiner poetischen u. prosaischen Werke würde hier zu weit führen; erstere (de Fontaines, le Franc de Pompignan, Scipio Maffei, Beaumelle, Fréron, Nonotte, Guyot, der Schweizer Haller waren seine berühmtesten Gegner) führte er mit ebensoviel Witz als Kleinlichkeit und Gemeinheit, seine Werke sind schon als lebensvoller Ausdruck des steigenden Hasses vieler Franzosen gegen alles Bestehende culturgeschichtlich wichtig. 1732 kamen die Zaïre, 1734 die sog. philosophischen Briefe und »der Tempel des Geschmacks«; von dieser Zeit an lebte und schrieb er 10 Jahre bei der Marquise Chatelet in Cirey z.B. die gänzlich verunglückten »Anfangsgründe der Philosophie Newtons zum Verständniß für Jedermann« (1738), die Maupertuis verbesserte u. dafür mit schändlichem Undanke belohnt wurde, Merope, das Lustspiel l'enfant prodigue u.a.m.; der »Mahomet« wurde 1742 noch unterdrückt, 1751 aber setzten V.s vornehme Anhänger bereits die Aufführung dieses Stückes in Paris durch; 1743 kam Cäsars Tod, eine Nachäffung des Shakespeare'schen Stückes, dann warf sich V. auf die Geschichte als ein Hauptmittel für die Popularisirung seiner Ansichten: Karl XII. V. wurde zu geheimen Sendungen benützt, bereits 1745 durch den Einfluß der d'Etioles (spätern Pompadour) gentilhomme ordinaire, conseiller du roi et historiographe de France, 1746 auch Mitglied der Akademie. 1749 st. die Chatelet, in Paris verschüttete es V. bei der Pompadour und konnte sich nicht mehr halten, 1750 begab er sich nach Berlin zu Friedrich II., mit dem er längst auf dem besten Fuße stand, erhielt Verdienstorden, den Kammerherrnschlüssel, einen Jahresgehalt von 7000 Thalern u. anderes mehr. Mit welch' gemeinem Undanke V. dem Könige lohnte und auf welche Weise er aus Berlin hinaus und über den Rhein kam, sind bekannte Thatsachen. In die französ. Hauptstadt durfte er nicht kommen, der großen Zahl seiner Gegner schloß sich auch J. J. Rousseau und die Genfer Geistlichkeit an; er zog sich nach Ferney im Ländchen Gex zurück, schrieb den Versuch über die Sitten, die Waise aus China u. ein Bühnenstück nach dem andern, worin das Schwinden des poetischen Geistes durch gesteigerte diabolische Wuth gegen die Kirche und alle sittlichen Begriffe ersetzt werden sollte (Hennuyer, die Frau hat Recht, Candide; 1756 wurde auch die berüchtigte pucelle d'Orléans veröffentlicht, von welcher einzelne Partien schon seit 30 Jahren handschriftlich circulirt hatten), dazu sog. philosophische und historische Schriften (Connaissance des beautés etc., Geschichte Rußlands unter Peter d. Gr., Zeitalter Ludwigs XI V., dictionnaire philosophique portatif 1764, Arbeiten in die bekannte Encyklopädie, dazu Romane, Erzählungen in Versen, Episteln, Pamphlete u. dergl. m.). V. erlebte als Vertheidiger des I. Calas (s. d) und Gegner des Jesuitenordens große Triumphe, correspondirte mit den Königen von Preußen u. Schweden und anderen hochstehenden und berühmten Persönlichkeiten des Jahrh., wurde 1778 gelegentlich eines Besuches in Paris als der Genius des Jahrh. förmlich vergöttert, st. aber am 30. Mai desselben Jahres zu Paris. In der Revolutionszeit brachte man seinen Leichnam aus der Abtei Scellières im Triumphe nach der Hauptstadt und ins Pantheon. Eine Gesammtausgabe seiner Werke füllt 70 Octavbände, die Zahl der Nachdrücke, Uebersetzungen und Ausgaben der einzelnen Schriften, die bis heute veranstaltet wurden, läßt sich ebenso wenig berechnen, als der dadurch angestiftete Schaden. – Unter einer Menge von Schriften für und wider V., von denen keine einzige ganz genügen dürfte, nennen wir außer der Lobrede Friedrichs II. die deutschen von Gillet (V. der Reformator, Berl. 1772), Zabueßnig (Augsb. 1777), Knueppeln (Leipz. 1792), R. Schultheß (Nordhausen 18501, A. Ellissen (Leipz. 1852), dazu die Voltairiana von d'Avallon (Paris 1801 u. oft) und Maria Julia Young (Lond. 1805).


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