- Tacitus [1]
Tacitus, Publius Cornelius, der letzte große Historiker der alten Römer, geb. um 54 n. Chr., studierte die Redekunst u. Rechtswissenschaft, machte Reisen bis Britannien und wahrscheinlich auch in Germanien u. betrat die öffentliche Laufbahn unter Vespasian. Schwiegersohn des Agricola, Freund des jüngern Plinius und selber ein in jeder Hinsicht ausgezeichneter Mann, stieg T. unter Titus, Domitian und dem folgenden Herrscher von Stufe zu Stufe, war 97 n. Chr. consul suffectus, führte um 100 mit Plinius einen Proceß gegen einen wegen Erpressungen angeklagten Proconsul u. st. um 117 n. Chr. Man könnte den T. den Tragiker unter den Historikern nennen; mit tiefem Ernst u. verhaltenem Schmerz schaut er zurück in die Geschichte seines Volkes, wie es zur Weltherrschaft gelangte u. immer reicher an Schuld und immer ärmer an großen Patrioten wird; hinein in die Gegenwart, die ihm keine Hoffnung auf Besserwerden beut u. vorwärts in die herandämmernde Nacht, deren neuer Morgen ein neues Volk – die Germanen – als herrschend auf der Bühne der Weltgeschichte erblickt. Dieser durch die damalige Weltlage u. Zeitverhältnisse dem genialen Manne aufgedrungenen Gemüthsstimmung entspricht der Geist seiner Werke, die Auffassung der Thatsachen, nicht minder der poetisch-oratorische, körnige und bis zur Dunkelheit kurze aber von den Fehlern seiner Zeit im Ganzen freie Styl. Eine der frühesten Schriften des T. war wohl ein dialogus de oratoribus; unter den Geschichtswerken traten die historiae (14 Bücher, von denen uns aber nur die 4 ersten und 25 Kapitel des 5. erhalten sind) zuerst ans Licht, umfassend die Zeitgeschichte von der Empörung der germanischen Legionen kurz vor Neros Ermordung bis zur Erhebung Nervas und zweifelsohne ein abgeschlossenes Ganzes bildend. Als Ergänzung lieferte er später 16 Bücher annales (es fehlt das 5. Buch theilweise, 7–10 ganz, vom 11. der Anfang, vom 16. der Schluß), worin nach einer gedrängten Uebersicht der röm. Geschichte die letzten Zeiten des Augustus und die Regierungen des Tiberius, Caligula, Claudius und Nero, mit welchem die Julier vom Throne stiegen, erzählt werden. Das ganze Kunstgenie des Historikers entfaltet sich in der Art und Weise, wie T. die an sich unfruchtbare Annalenform veredelt; in den Annalen nähert er sich am meisten dem Thukydides. In der weltbekannten Germania lieferte er keineswegs einen vollständigen Bericht über Germanien u. dessen Völkerstämme, denn er wollte die Römer nur auf die Germanen als das Volk der Zukunft aufmerksam machen und ihnen zugleich einen Sittenspiegel vorhalten, aber was er berichtet, gilt mit Recht als Urkunde. Den berühmten Feldherrn Agricola (s. d.) verherrlichte er in einer Lebensbeschreibung, welche vollendete Kunstgestalt mit dem vollen Ausdrucke eines tiefen und klaren Gemüthes vereinigt. – Seit 1470 sind Ausgaben aller u. einzelner Werke, Commentare und Uebersetzungen in Menge geliefert worden, neueste Gesammtausgaben von Orelli (Zürich 1846–1848), Nipperdey (2. Aufl., Berl. 1855 ff.) und Haase, Uebersetzungen von Bötticher (Berl. 1831 ff.) und Roth (Stuttg. 1854 ff.).
http://www.zeno.org/Herder-1854.