Sokrates [1]

Sokrates [1]

Sokrates, der gefeierteste Weltweise der vorchristlichen Zeit, geb. 469 v. Chr. zu Athen, der Sohn eines unbemittelten Bildhauers Sophroniskos und der Hebamme Phänarete, widmete sich selber der Bildhauerkunst (Pausanias sah auf der Akropolis zu Athen Statuen der Grazien, die S. verfertigt haben sollte), später aber ausschließlich und in einer zur gelehrtthuenden Pedanterie der Sophisten in schroffem Gegensatze stehenden Weise, auf dem Markte, in den Gymnasien und Werkstätten Athens der Erziehung der reifern Jugend, geleitet von der Ueberzeugung, daß lediglich eine tüchtige Bildung des jüngern Geschlechtes für das praktische Leben den zerrütteten Staatsverhältnissen von Athen u. Hellas überhaupt eine Wendung zum Bessern zu geben vermöge. Man weiß, daß S. seine Vaterstadt mit Ausnahme einer Festreise und der Feldzüge, die er nach Potidäa, Delion und Amphipolis mitmachte, niemals verließ; ferner, daß er sich niemals direct mit Staatsangelegenheiten befaßte u. nur einmal kurze Zeit als Vorsteher der Prytanen ein Amt begleitete, ebenso daß er die Rednerbühne nur einmal betrat und zwar in seiner eigenen Angelegenheit, nämlich um sich zu vertheidigen; endlich liegt nirgends ein Zeugniß vor, daß er sich sehr um Weib und Kind bekümmerte; die Anekdoten, die von ihm u. von der sich er übertriebenen Zanksucht seiner Frau Xanthippe erzählt werden, lassen sich ebensogut als Zeugnisse für die Gleichgültigkeit gegen seine Familie als für die unerschütterliche Ruhe seines Charakters auslegen. Lehrer des jüngern Geschlechtes zu sein, war das Interesse, welches sein Leben ganz ausfüllte; von welcher Zeit an er sich solchem Berufe widmete, ist ungewiß, jedenfalls geschah es mehre Jahre vor 423 v. Chr., da in diesem Jahre die Wolken des Aristophanes aufgeführt wurden, in denen S. als der Hauptvertreter der verderbenbringenden Sophistik und Jungathens bitter verspottet wurde; in den Schriften seiner Anhänger, der Sokratiker, aber erscheint er durchgängig als betagter Mann. Abgesehen davon, daß er die Leute aufsuchte, um sie zu belehren, war schon seine silenähnliche Gestalt geeignet, Zuhörer herbeizulocken; das Außergewöhnliche seiner Lehrart, seine Grundgedanken sowie das Ziel, auf das er hinsteuerte, mußte seinen Zeitgenossen ebenso neu als unerhört vorkommen, die Harmonie seiner Lehre mit seinem Leben, die Bessern u. Einsichtsvollen mit jener Begeisterung für ihn entzünden, die aus Platons Dialogen wie aus Xenophons historischer Darstellung spricht. Allein er hatte die Bewunderer der guten alten Zeit Athens sowie die geld- und ruhmdurstigen Sophisten von vornherein gegen sich; er nahm keine Rücksicht auf Personen, sobald es galt, den Gescheidheitsdünkel zu beschämen und mit der Lauge herben Spottes zu übergießen; seine Theilnahmlosigkeit gegen das politische Leben u. Treiben in seiner Vaterstadt ließ ihn als schlechten Bürger erscheinen, kurz, sein Benehmen wie seine Gedanken widersprachen vielfach dem hellenischen Staatsprincip, anderseits war Kritias, einer der 30 Tyrannen, sein Schüler und Alcibiades einer seiner Lieblinge gewesen und bei jeder Gelegenheit hatte er die athenische Demokratie bitter und gerade das, was die Demokraten als den Kern aller Freiheit betrachteten, nämlich die Wahl durchs Loos am bittersten getadelt, dabei war sein mittelbarer Einfluß auf Staatsangelegenheiten keineswegs gering – kein Wunder, daß er Feinde genug bekam, u. daß die siegreich gewordene Demokratie ihn 399 als den gefährlichsten aller Sophisten vor die Schranken des Volksgerichtes forderte. Der Poet Melitos, der Demagog Anytos und der Redner Lykon, 3 unbedeutende und von persönlichem Haß gegen S. freie Menschen klagten ihn der Nichtanerkennung der Staatsgötter, der Einführung neuer Gottheiten sowie der Jugendverführung an. Der Proceß wurde in aller Eile betrieben, die Richter waren entschiedene Demokraten, aber obwohl sich S. mit Trotz und Hohn denselben gegenüberstellte, erfolgte seine Verurtheilung zum Tode doch nur mit sehr geringer Mehrheit. Statt sich unter den Ausspruch des souveränen Volkes zu beugen und vom Privilegium athenischer Bürger Gebrauch zu machen, welches darin bestand, daß ein Verurtheilter beim Volke eine Umwandlung des Strafantrages (gewöhnlich Todesstrafe in Exil od. Geldbuße) erflehen durfte, beharrte S. in seinem Trotze u. bewirkte dadurch, daß 80 von den Richtern, die vorher für seine Unschuld gestimmt, jetzt für seine Schuld entschieden. Ein glücklicher Umstand verlängerte sein Leben um 30 Tage, die er mit seinen Schülern zubrachte; Flucht aus dem Kerker verschmähend trank er den Schierlingsbecher 399 vor Chr. Nicht gar lange darauf bereuten die wetterwendischen Athenienser ihre That; in Folge davon wurde Melitos zum Tode verurtheilt, seine 2 Genossen schickte man ins Exil, S. aber genoß seither oft maßlose Verehrung. – S. verachtete die frühere Naturphilosophie, weil er sie für das praktische Leben für unfruchtbar hielt; er faßte den Menschen als sittlichen und handelnden Geist, die Tugend aber als das höchste Ziel desselben auf. Den einzigen positiven Satz, der von seiner Lehre überliefert wurde, hatte er gemeinsam mit den Sophisten: Die Tugend sei ein Wissen, deßhalb niemand freiwillig böse u. selbst der Schlechte eigentlich wider seinen Willen schlecht. Von den Sophisten unterschied er sich aber sehr wesentlich, indem er keineswegs jeden einzelnen Menschen als das Maß aller Dinge auffaßte u. damit die sittlichen Pflichten und alles sittliche Thun lediglich dem Meinen und Belieben eines Jeden anheimstellte, sondern nur eine wahre, dem allgemeinen od. Idealmenschen entsprechende Tugend anerkannte. Aus solcher Auffassung der Tugend ergab sich 1) die Tugend ist lehrbar, 2) fließt aus der richtigen Selbsterkenntniß, zumal die Ideen des Rechten, Wahren u. Guten angeboren sind; 3) einzig die dem Idealmenschen entsprechende Tugend ist das höchste Gut und das Streben nach ihr die wahre Weisheit. Diese für ihre Zeit genialen Gedanken wurden der Grundstein der Moralwissenschaft u. lassen den S. nicht sowohl als Hellenen denn als Kosmopoliten erscheinen, der über die ganze alte Welt emporragt, noch mehr aber war dies der Fall, indem S. den Einen persönlichen Gott ahnte und durch die Unvollkommenheit u. Unbefriedigung des Erdenlebens zur Ueberzeugung durchdrang, die Seele bedürfe auch nach dem Tode noch Zeit zu ihrer idealen Vollendung und Beseligung, es gebe eine persönliche Unsterblichkeit. Wie sehr man aber irrt, den S. als Tugendmuster für alle Zeiten hinzustellen oder gar mit Christus zu vergleichen, erhellt: 1) aus dem, was er unter Tugend verstand: sie ist ihm die Tüchtigkeit, sich der rechten Mittel immer rechtzeitig u. in rechter Weise zu bedienen, ihr Kern der persönliche Vortheil, der mit der Liebe zu Gott nichts zu schaffen hat; 2) aus der Thatsache, daß S. keineswegs über hellenische Tugendbegriffe im einzelnen sich erhob. Platons Dialoge und Xenophon (besonders Memorab. I. 3. 14. II. 1. 5. III. 11. IV. 5. 9 u.s.f.) berichten Reden u. Thaten, die vom christlichen Standpunkte aus betrachtet geradezu unsittlich und lasterhaft sind; 3) aus seinem Martyrthum, denn S. Hauptbeweggründe, dasselbe auf sich zu nehmen, wurzelten in der Hauptkrankheit der vorchristlichen u. außerchristlichen Welt, nämlich im Hochmuth, der lieber stirbt als sich der Demuth ergibt. – Schließlich noch von 2 Eigenthümlichkeiten des S., nämlich von seiner Methode u. dem Dämonion. Seine aus Mißverständniß noch in unserer Zeit häufig angepriesene Methode war die lediglich ihm eigenthümliche u. unlehrbare Manier seines philosophischen Umgangslebens; die verneinende Seite derselben war Ironie, d.h. S. stellt sich ganz unwissend über dies oder jenes, sucht Belehrung bei andern, verwirrt diese aber durch Aufdecken der Widersprüche sowie der Folgerungen ihrer Aussagen immer mehr und bringt ihnen dadurch zum Bewußtsein, daß sie sich bisher nur einbildeten, fertige und richtige Antworten auf die vorgelegten Fragen zu haben, in der That aber nichts wüßten; die positive Seite derselben aber lag in dem, was er selbst Mäeutik (Hebammenkunst) nannte und bestand darin, daß er, an ganz gleichgültige und unscheinbare Gegenstände anknüpfend, es verstand, durch unablässiges Ausfragen und schonungslose Zergliederung aller Vorstellungen im Andern neue Gedanken gleichsam zu entbinden, ihm zu begriffsmäßigen Definitionen zu verhelfen, vor allem im Gebiete des sittlichen Lebens. Ueber das Dämonion des S. sind die Gelehrten bis heute unklar; dasselbe erscheint als eine dem S. innewohnende geheimnißvolle Macht, die ihm in zweifelhaften Fällen das Richtige eingab, mochte es sich um eine wichtige sittliche Frage oder um den Termin der Abreise eines Freundes u. dgl. handeln; im allgemeinen wird es bald als sittlicher Takt bald als gesteigertes Ahnungsvermögen aufgefaßt, von S. Zeitgenossen selber vielfach mit Zauberei, von neuern mit Magnetismus u. Epilepsie in Verbindung gebracht; vielleicht war der Kern des selben lediglich eine fixe Idee des S. selber, aus der seine gläubigen, ehrfurchtsvollen Schüler viel Wesens machten. – S. selber schrieb nichts und die Quellen über ihn und seine Lehre sind nichts weniger als vollständig und genügend, desto mehr aber wurde über ihn u. manches Dutzend Abhandlungen schon über sein Dämonion geschrieben.


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