- Polen
Polen, lat. Polonia, Sarmatia, im vorigen Jahrh. noch Königreich u. Republik, umfaßte vor 1772 als Haupttheile: 1) Groß-P. mit den Woiwodschaften Posen, Kalisch, Sieracz, Lencicz, Brzest, Inowrazlaw, Plock, Masowien, Rawa, Gnesen u. die Freiländer Wielun und Dobrczyn; 2) Klein-P. mit den Woiwodschaften Krakau, Sandomir, Lublin, Podlachien, Podolien, Brazlaw, Roth-Reußen, Belcz, dem Lande Halicz und dem Freilande Chelm; 3) Lithauen mit den Woiwodschaften Wilna, Troki, Poloczk, Minsk, Nowogrodek, Brzesk, Witepsk, Micislaw, poln. Livland, Kurland und Samogitien; 4) Polnisch-Preußen, mit eigener Verfassung; bestand aus Pomerellen, Kulmerland, Marienburger Gebiet u. Ermeland, den freien Städten Danzig u. Thorn. Das ganze P. umfaßte gegen 14000 QM. mit etwa 16 Mill. E. Nur im Süden finden sich Ausläufer der Karpathen, sonst ist das Land eine große Ebene, von der Weichsel, der Düna, dem Dniepr, Dniestr u. deren zahlreichen Nebenflüssen bewässert, mit vielen Seen und Morästen, ungeheuren an Raub- und anderem Wild reichen Waldungen, einer Bevölkerung, die größtentheils von Ackerbau u. Viehzucht lebt. Die Polanen, einer der slav. Stämme, die man unter dem Namen Lachen (Lechen) begreift, gewannen im 9. Jahrh. die Oberhand; als 1. König wird Piast (s.d.) genannt, die Geschichte und Civilisation des Volks beginnt aber erst mit der Bekehrung Mieczyslaws I. zum Christenthume (966). Sein Sohn Boleslaw I., der Große (992–1025), eroberte Schlesien, die Lausitz, Mähren, Preußen, Kiew, aber schon Boleslaw III. (1137) theilte das Reich unter seine 4 Söhne, u. Schlesien blieb forthin getrennt. Wie in Deutschland, so versuchten auch die Großen in P. sich unabhängig zu machen u. Herzog Konrad von Masovien rief 1230 den deutschen Ritterorden zu Hilfe (zunächst gegen die Preußen), welcher festen Fuß an der Ostsee faßte und trotz der langdauernden Kämpfe der poln. Könige das Küstenland von der Oder bis zum finn. Meerbusen behauptete. Unter Kasimir III. (1334–70) gewann der Adel das Uebergewicht, indem derselbe Antheil an der Gesetzgebung erhielt. Nach Kasimir III., dem letzten Piasten, herrschte König Ludwig d. Gr. von Ungarn bis 1382 über P., seine Tochter Hedwig aber gab 1386 ihre Hand dem Großfürsten Jagello von Lithauen, das 1413 mit P. dauernd vereinigt wurde. Unter den Jagellonen (1386–1572) vermehrte der Adel seine Rechte, indem er den Königen öfters die Thronfolge streitig machte und sich die Anerkennung derselben mit neuen Vorrechten bezahlen ließ; 1404 erlangte er das Recht Provinzialversammlungen zu halten, 1430 eine Art Habeas corpus-Acte, aber nur für sich, nicht auch für Bürger und Bauern; 1468 bildete sich der Reichstag in der Weise aus, daß jeder District 2 Landboten wählte, diese aber durch Instructionen vollständig band, so daß der Reichstag zu einem selbständigen Handeln unfähig war. Der Adel erwarb ferner den ausschließlichen Besitz aller bürgerlichen, militärischen und kirchlichen Würden; nur aus ihm durfte der König die Reichsbeamten, die den Senat des Reichstags bildeten, wählen. Die Tapferkeit und Zahl des berittenen poln. Adels (man rechnete 120000 adelige Familien) hob unter den Jagellonen dem Ausland gegenüber P. noch einmal; Wladislaw II. (1386 bis 1434) gewann Samogitien wieder, Wladislaw III. (1434–44) schlug das Heer des deutschen Ordens in Livland, blieb aber 1444 bei Varna; Kasimir IV. (1446–92) gewann die Oberherrlichkeit über Westpreußen, Sigismund I. (1506–46) die Oberlehensherrlichkeit über Ostpreußen, Sigismund II. (1546 bis 1572) brachte 1558 Livland wieder zu Lithauen und machte 1561 Kurland zum poln. Lehen. Mit Sigismund II. erlosch 1572 der Stamm der Jagellonen u. P. wurde förmliches Wahlreich; einheimische u. auswärtige Große strebten nach der Krone, es bildeten sich Parteien unter den Häuptern des mächtigen Adels, zu denen sich der niedere schaarte, je nachdem er bezahlt wurde; es trat eine Corruption ein, welche den Staat ruiniren mußte, was König Johann II. Kasimir (1648–72) dem Reichstage in einer merkwürdigen Rede voraussagte. Die Ausbildung der neuen Kriegskunst verminderte zugleich die Bedeutung der poln. Reiterei und schon 1655 siegten die Schweden Karl Gustavs vor Warschau; P. wurde zwar durch die allgemeine Erhebung des Adels noch gerettet, verlor aber Livland und Esthland an Schweden u. die Kosaken fielen zu Rußland ab, welches Smolensk, Kiew u. die Ukraine jenseits des Dnieprs 1667 eroberte; diese Verluste ersetzte auch der Ruhm des tapfern Joh. Sobieski (1674 bis 1696) nicht. Dagegen setzte der Adel unter Johann II. Kasimir das Liberum Veto durch, dem gemäß Einstimmigkeit zu jedem Beschlusse des Reichstags erfordert wurde, jeder Landbote also eine Beschlußfassung verhindern konnte. Gegen diese unsinnige Bestimmung konnte nur der Bürgerkrieg etwas durchsetzen, und dieser wurde gesetzlich durch das Recht der Föderation, d.h. das Recht einer Partei sich zum bewaffneten Widerstande gegen die andere zu organisiren. Daß unter solchen Verhältnissen keine Seemacht zu Stande kam und eben so wenig eine reguläre Landmacht aufgestellt wurde, daß die Gränzen ohne Festungen blieben, ist natürlich; eben so wenig konnte der Bürgerstand od. die leibeigenen Bauern emporkommen, und nur die Juden (1/2 Mill. stark), die alle Schenken und Branntweinbrennereien pachteten u. alle kleinen und großen Geldgeschäfte machten, gediehen bei einem solchen Staatswesen. Nach Sobieskys Tode setzte Kurfürst August II. von Sachsen seine Wahl durch Bestechung durch und verwickelte P. in den Nordischen Krieg (s.d.); ihn vertrieb der siegreiche Schwedenkönig Karl XII., der den Stanislaus Leszcynski einsetzte; der Sieg der russ. Waffen hob aber 1709 August II. wieder auf den poln. Thron, dem 1733 sein Sohn August III. mit Hilfe Rußlands folgte. Unter diesem erneuerten sich die Unruhen wegen der Dissidenten, d.h. der Nichtkatholiken in P., welche 1573 alle staatsbürgerlichen Rechte mit den Katholiken erhalten hatten, die ihnen 1587, 1717 und zuletzt 1736 sehr geschmälert wurden. Nach Augusts III. Tode ließ Katharina russ. Truppen in P. einmarschiren, angeblich um die Freiheit der Königswahl zu schützen u. sie setzte auf diese Weise einen ihrer ehemaligen Liebhaber, den Grafen Stanislaus Poniatowski auf den Thron, räumte aber P. nicht mehr. Die Unruhen in der Dissidentenfrage erneuerten sich auf ihren Antrieb und 1767 bildeten die Dissidenten eine Conföderation unter russ. Schutze, der sich andere kleinere Conföderationen verschiedener Art anschlossen. Auf dem Reichstag von 1768 erschien der russ. Gesandte Repnin mit Truppen, ließ widersprechende Magnaten aufheben und nach Sibirien abführen, u. nöthigte den Reichstag die Rechte der Dissidenten wiederherzustellen. Die russ. Truppen blieben aber dennoch u. Repnin fand mehr käufliche Werkzeuge unter dem Adel als er bedurfte, um eine fortwährende Gährung zu unterhalten. 1769 bildete sich die Generalconföderation zu Bar zur Behauptung der poln. Selbständigkeit, aber sie war trotz heldenmüthiger vereinzelter Anstrengungen nicht im Stande, 30000 Russen hinauszuwerfen, weil das gemeine Volk unthätig blieb. Während dessen setzte sich Oesterreich wieder in den Besitz der Zipser Städte, die König Sigmund von Ungarn im 15. Jahrh. an P. verpfändet hatte, und Rußland und Preußen machten einen Bund zur Theilung P.s, dem zuletzt auch Oesterreich beitrat. Am 18. Septbr. 1773 willigte der wehrlose Reichstag in die Abtretung von etwa 4000 QM. an die 3 verbündeten Mächte. Jetzt erkannte der gesammte poln. Adel die nationale Gefahr u. in der Staatsverfassung die eigentliche Ursache derselben, daher der Reichstag am 18. Mai 1791 dem Lande eine Constitution gab, durch welche die Erbmonarchie, erweiterte Volksvertretung, religiöse Freiheit etc. eingeführt, das Liberum Veto aber abgeschafft wurde. Doch auch jetzt fanden sich unter dem Adel Verräther u. noch mehr beschränkte Köpfe, denen die Constitution zu weit griff; sie schlossen die Conföderation von Targowice (1792) und gaben dadurch Rußland abermals einen Vorwand zur Einmischung. Der König selbst besaß den Muth nicht einen energischen Krieg gegen die Russen zu führen, daher siegte die Conföderation von Targowice vollständig, die alte Verfassung erstand wieder, P. aber bezahlte sie mit der Abtretung von 4500 QM. an Rußland und von 1060 an Preußen, das vorher P. alle Hilfe versprochen hatte, aber zu Rußland überging, als ihm Danzig u. Thorn von dem Reichstage nicht freiwillig überlassen wurden (Zweite Theilung 1793). Als im März 1794 die poln. Armee aufgelöst werden sollte, erhob sich P. abermals; Kosciusko siegte über die Russen bei Raklawice, Warschau vertrieb die russ. Besatzung, die Preußen belagerten Warschau vergebens, aber Kosciusko wurde am 10. Octbr. bei Macijowice geschlagen und gefangen. am 9. Novbr. erstürmte Suwarow Praga, 1795 legte der König die Krone nieder und in der dritten Theilung nahm Rußland 2030, Preußen 997, Oesterreich 834 QM. Ueber 20000 Männer wanderten aus u. fochten unter den Fahnen des republikan. und kaiserl. Frankreich, von dem sie die Wiederherstellung des poln. Reichs erwarteten. Nach der Schlacht von Jena empörte sich das preuß. P. auf den Ruf Dombrowskis, u. Napoleon formte aus demselben 1807 das Großherzogthum Warschau, das er 1809 mit dem von Oesterreich abgetretenen Westgalizien vergrößerte. Er mißbrauchte aber P. nur zu Rekrutirungen für seine Armee u. dachte nie ernstlich daran es wiederherzustellen, sonst hätte er dies wenigstens 1812 bei der Eröffnung des russ. Feldzugs ausgesprochen. In diesem u. den Feldzügen von 1813–14 opferte er die poln. Armee bis auf einen kleinen Rest, und nach seinem Sturze entschieden die siegreichen Großmächte über P.s Schicksal. Oesterreich erhielt Galizien und Lodomirien zurück, Preußen Posen u. eine zusammenhängende Gränze gegen Lithauen, den Löwentheil aber Rußland, das 1815 ein 2331 QM. großes Königreich P. herstellte, demselben eine liberale Constitution, eigene Verwaltung und Rechtspflege, ein nationales Heer von 50000 Mann u. in dem Großfürsten Konstantin einen eigenen Statthalter gab. Es war sehr natürlich, daß die Polen den gewonnenen freien Raum dazu benutzten, um an der Wiederherstellung ihres nationalen Reiches zu arbeiten; es organisirten sich Verschwörungen, auf dem Reichstage entwickelte sich eine systematische Opposition und schon Kaiser Alexander sah sich veranlaßt, die constitutionellen Freiheiten zu beschränken, während Großfürst Konstantin sich durch launischen Despotismus verhaßt machte. Die frz. Julirevolution von 1830 ermuthigte einige verschworne Offizierszöglinge und Militärs am 29. Nov. 1830 zu Warschau einen Aufstand zu wagen, der auch durch die Theilnahme des 4. Infanterieregiments gelang. Aber auch diesesmal parteiten sich die Polen alsbald; eine demokratische Partei wollte einen revolutionären Volkskrieg nach Art des franz. von 1793 u. 94 organisiren, die zahlreichere adelige hoffte dagegen auf die Unterstützung Frankreichs und Englands, verzweifelte aber wie die meisten Oberoffiziere an der Möglichkeit eines bewaffneten Widerstandes gegen Rußland. Kaiser Nikolaus verlangte unbedingte Unterwerfung u. schickte den Marschall Diebitsch mit 120000 Mann gegen Warschau. Das Kriegsglück war anfangs den Russen wenig günstig; der poln. General Dwernicki schlug 2 russ. Corps, u. die mörderischen Kämpfe vor Warschau (Ende Febr. 1831) hatten kein anderes Resultat als den Rückzug der poln. Armee hinter die Schanzen Warschaus, aus denen sie am 31. März hervorbrach und bei Wawre, Dembin u. Iganie 3 russ. Corps vollständig schlug. Der neue Oberbefehlshaber Skrzinecki verstand es aber nicht die errungenen Vortheile gehörig zu benutzen; durch eine treffliche Operation hatte er sich zwischen die russ. Armee und das nachrückende Gardecorps geworfen, ließ dies aber unangegriffen abziehen, wurde nun seinerseits von Diebitsch überrascht und bei Ostrolenka am 26. Mai geschlagen. Er wich über Pultusk an die Weichsel zurück u. damit waren die Corps, die er nach Lithauen entsendet hatte, ihrem Schicksal überlassen; sie wurden von den Russen vernichtet oder retteten sich über die preuß. Gränze, wo sie die Waffen strecken mußten. Diese Unfälle steigerten die Uneinigkeit der Polen, Skrzinecki wurde abgesetzt, aber der Armee kein Oberbefehlshaber gegeben; die russ. Armee, jetzt von Paskewitsch geführt, ging über die Weichsel, folgte der poln. bis Warschau u. nahm diese Stadt am 8. Sept. mit Sturm, worauf die Reste der Armee auf preuß. oder österr. Boden flüchteten oder sich den Russen ergaben. Die Constitution wurde aufgehoben, die Armee aufgelöst, Schaaren von Polen nach Rußland geführt und durch russ. Bevölkerung ersetzt, die Güter der geflüchteten Adeligen confiscirt, durch wiederholte Rekrutirungen die wehrbare Mannschaft dem Lande entzogen, in Warschau eine dominirende Citadelle gebaut, Modlin zu einem Waffenplatze 1. Rangs umgeschaffen, an strategisch-wichtigen Punkten verschanzte Lager angelegt, endlich den poln. Katholiken die Hälfte ihrer Kirchen entrissen, die unirte griech.-kathol. Bevölkerung der russisch-griech. Kirche einverleibt, die kathol. Hierarchie fast gänzlich beseitigt, die russ. Sprache zur Geschäfts- und Gerichtssprache erklärt, kurz, es wurde alles gethan, was eine despotische Regierung nur immer thun konnte, um P. schnell zu russificiren. Das gegenwärtige Königreich P. (2331 QM. mit mehr als 4 Mill. E.) besteht daher nur mehr dem Namen nach; es gränzt an Lithauen, Volhynien, Galizien, Krakau, Schlesien, Posen, West- u. Ostpreußen, bildet, den Süden ausgenommen, eine große von der Weichsel und ihren Nebenflüssen (Pilica, Bug etc.) durchströmte fruchtbare Ebene, von der aber wenigstens 1/4 mit Wäldern, Seen und Morästen bedeckt ist. In den Ausläufern der Karpathen wird auf Eisen, Blei, Zink und Steinkohlen gebaut; die Industrie wird nur in Wolle und Baumwolle in größerer Ausdehnung betrieben, Haupterwerbsquelle ist noch immer Ackerbau und Viehzucht. Seit 1845 ist P. in 5 Civilgouvernements eingetheilt: Warschau, Plock, Augustowow, Lublin, Radom.
http://www.zeno.org/Herder-1854.