Agende

Agende

Agende, Agendenstreit. Nachdem der westfälische Friede von 1648 dem Protestantismus in Deutschland seine Existenz und seinen Besitz gesichert hatte, war derselbe den Folgen seiner eigenen Principien, seiner Entwicklung, überlassen. Diese offenbarte sich besonders um die Hälfte des 18. Jahrh., indem sie das zerfetzte und zerstörte, was die theologischen und fürstlichen Reformatoren als Bruchstücke in ihr System aus der kathol. Kirche herüber genommen hatten. Der Rationalismus untergrub die Autorität der Bibel und damit die Grundlage des positiven Glaubens, und die neue Philosophie wollte ohnehin von keinem Glauben wissen und appellirte an die Wahrheit, welche durch die menschliche Vernunft gegeben würde. So kam es dahin, daß die Vernunft, der Luther bei seinem Streite gegen die Kirche so ehrenrührige Titel gegeben hatte, die letzte Instanz für den Protestantismus wurde. Für die Geistlichen und das gemeine Volk blieben zwar die verschiedenen Agenden, d.h. die gesetzlichen Formen für den öffentlichen Gottesdienst und die kirchlichen Handlungen, stehen, aber die innerliche Auflösung in der Glaubenslehre konnte nicht ohne Einfluß auf den Gottesdienst sein, und die Willkür drang auch hier vor und verwischte die Bedeutung der gottesdienstlichen Formen, wo sie dieselben nicht änderte, wie häufig genug geschah, denn es erschienen eine Menge neuer Agenden von Privaten und Regierungen. Friedrichs II. glänzende Regierung schien den unumstößlichen Beweis zu liefern, daß man »jeden nach seiner Façon selig werden lassen könne«, d.h. daß die Religion für den Staat selbst gleichgiltig sei. So gut es aber für die kathol. Kirche ist, wenn die Staatsgewalt sie in ihrem Rechte unbedingt gewähren läßt, so wenig kann der Protestantismus sich erhalten, wenn der Staat ihn nicht mit sichernden Schranken umzieht, weil ihm die innere Einheit mangelt und er der Zerfahrenheit anheimfällt, wenn er nicht äußerlich zusammengehalten wird; ohne die zwingende Macht der Fürsten hätten sich die reformatorischen Theologen ja schon im Anfange nie zu einer Glaubenslehre und Liturgie geeiniget. Als aber die französ. Revolution Thron und Altar zerbrochen hatte, als Preußen im französ. Kriege am meisten gedemüthigt und mißhandelt wurde, kehrte eine Sinnesänderung ein und während des Freiheitskrieges wurde mehr gebetet, als das ganze halbe Jahrhundert vorher, und diese Stimmung hielt noch einige Friedensjahre an. Friedrich Wilhelm III. von Preußen, dessen Glaubenseifer unbestritten ist, hätte die »evangelische Kirche« gerne fester begründet und stärker umfriedigt, darum that er manches, um das sich seine Vorgänger nie bekümmert hatten; seine wichtigsten Unternehmungen in dieser Richtung waren jedoch »die Union« (s. Union) und die neue Agende. In dieser schloß sich die »evangel. Kirche« vielfach der katholischen an; diese Agende hat Responsorien, ein Confiteor, Gloria, Collecte, Epistel, Evangelium, Credo, Präfation, Sanctus, aber begreiflich keine Wandlung, statt derselben die Predigt, dann folgt die Communion, der Schlußgesang und Segen. Die neue Agende wurde 1816 in der Hof- und Militärkirche zu Potsdam eingeführt, 1822 bei allen Militärgemeinden, endlich wurde sie allgemein empfohlen und 1826 sollten alle neuanzustellenden Candidaten auf dieselbe verpflichtet werden. Aber der Widerstand gegen sie war ein allgemeiner; den strengen Lutheranern erschien sie katholisirend und in der Abendmahlslehre calvinisirend; den Rationalisten und Philosophen gefiel sie überhaupt als orthodox nicht; viele Geistliche wollten sich nicht durch den Landesherrn vorschreiben lassen, wie sie den Gottesdienst halten sollten. Aus Preußen zog sich der Streit 1830 nach Baden, wo die Agende ebenfalls eingeführt werden sollte, und das ganze protestantische theologische Heerlager in Deutschland focht entweder für, größtentheils aber gegen die Agende; Schleiermacher, Marheineke, Klaus Harms, Dr. Paulus in Heidelberg, Ammon, Nitsch, Eylert, Augusti, Schulz u.s.w. traten in die Schranken. Auch das gemeine Volk blieb nicht unbetheiligt, und der calvinische Geist der Abendmahlsfeier bewog mehrere Geistliche mit ihren Gemeinden gegen die Union, die vereinigte evangelische Kirche, zu protestiren. Die Trennung von der evangel. Kirche wurde jedoch den »Altlutheranern« nicht gestattet und die letzten Jahre die Staatsgewalt von dieser Weise die Agende und die Union zu schützen, für einstweilen (mit wenigen Ausnahmen) ablenkte, zumal die »freien Gemeinden«, die von Altlutherthum und Union gleich wenig wissen wollen, die Wächter der protestantischen Landeskirchen besorgter gemacht haben. Die preuß. Agende, die darauf berechnet war, dem protest. Cultus mehr Weihe und Kraft zu gewähren, welche das gemeinsame Band des protest.-lutherischen und calvinischen Bekenntnisses bilden und durch äußerliche Annäherung auch die Katholiken anziehen sollte, ist bereits ein entschieden mißlungener Versuch, der, statt zu vereinen, nur entzweit hat. Die prot. Kirchentage fassen nun das Werk von neuem an, mit welchem Erfolge, wird die Zukunft lehren.


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