- Ansteckung
Ansteckung nennt man es, wenn ein gesunder Organismus durch Berührung mit einem kranken, und nur dadurch in derselben Weise erkrankt, daß sich an ihm die gleichen Krankheitssymptome zeigen wie an dem ersten. Es gibt indessen wohl nicht eine einzige sog. ansteckende Krankheit, Pest, Blattern, Syphilis nicht ausgenommen, bei welcher die einer wissenschaftlichen Kritik unterstellten Erfahrungen sich nicht widersprächen, und wir nennen deßwegen ansteckende Krankheiten solche Symptomencomplexe, die häufig, theilweise sogar meistens unter Umständen vorkommen, die eine A. im Sinne der obigen Begriffserklärung rechtfertigen lassen; Ansichten über das Wesen der A. selbst kann sich jedermann nach Belieben bilden, da die Erkenntniß desselben noch nicht gewonnen ist. Das Medium (Mittel) der A., öfters eine unbekannte als bekannte Größe, nennt man Contagium, darum die aus demselben entstehenden Krankheiten contagiöse. Der wesentliche Unterschied zwischen Contagium und Miasma liegt darin, daß das Miasma nicht das Produkt eines mit dem angesteckten Organismus gleichnamigen oder wenigstens physiologisch ähnlichen ansteckenden Organismus ist. Man nimmt an, daß der fiebererzeugende Stoff des Sumpfmiasmas eine der Sumpfluft beigemischte organische Substanz sei, welche als Produkt der Fäulniß von einer Masse der verschiedensten thierischen und vegetabilischen Körper entsteht und sich der Luft beimischt. Deßgleichen sieht man als das ansteckende Wesen der Masern und des Scharlachs einen (übrigens noch nicht dargestellten) organischen Stoff an, welchen ein Scharlach- oder Masernkranker seiner nächsten Umgebung mittheilt. Ersteres ist Miasma, letzteres Contagium. Ob es im Pflanzenreiche contagiöse Krankheiten gibt, steht dahin; bei den großen Epiphytien (Pflanzenseuchen) der Gegenwart, der Krankheit der Kartoffel und des Weinstocks, ist es wohl mehr als wahrscheinlich, daß allgemeine, ganzen Gegenden gemeinschaftliche äußere Naturmächte die Ursache, und örtliche in Boden und Pflanzen liegende Verhältnisse die Veranlassung sind, was indessen nicht ausschließt, daß zugleich auch Pflanze von Pflanze angesteckt werden kann. Bei den ansteckenden Krankheiten der Thiere und Menschen scheint ein acuter Verlauf und häufig auch ein bösartiger Charakter gemeinschaftliche Eigenschaft zu sein. Man hat – und zwar auf auffallende Thatsachen gestützt – auch wesentlich chronische Krankheiten, wie Lungenschwindsucht und Krebskrankheit, für ansteckend erklärt; jedenfalls aber müßten diese Fälle als seltene Ausnahmen angesehen werden, wie auch bei den Siphyliden vorzugsweise der acute Chanker impfbar ist. Die bedeutendsten ansteckenden Thierkrankheiten sind: die ungarische Rinderpest, der Milzbrand, der Lungenbrand (Pneumotyphus), die Klauenseuche, die Rotzkrankheit, die Maucke, die Pocke (Vaccine). Die gewöhnlichsten als contagios angenommenen Menschenkrankheiten sind: die acuten Exantheme (Ausschläge) der Blattern (Variolen), des Scharlachs, der Masern, der Rötheln, der Vaccine, der durch die Vaccine modificirten Blattern (die Varioloiden). Außer diesen beinahe immer die orientalische Pest; unter günstigen Umständen: der Typhus mit allen seinen Modificationen, wohl auch die Cholera, die Ruhr, beinahe immer der acute Chanker und unter günstigen Umständen secundäre und tertiäre Siphylis. Das Medium oder der Träger der A. ist bei diesen Krankheiten entweder eine Flüssigkeit oder ein (angenommenes) flüchtiges Contagium. Zerstörbar sind diese Contagien alle durch eine die Siedehitze des Wassers übersteigende Temperatur und, wie es scheint, durch die chemischen, organische Materie schnell zersetzenden Agentien, z.B. Chlor, Salz-, Salpeter-, Schwefelsäure. Eine theoretisch wie practisch wichtige Thatsache ist die, daß es Contagien gibt, die von Menschen auf Thiere und umgekehrt von Thieren auf Menschen übertragen werden können. Von dem Contagium der Kuhpocke und ihrer Anwendung hat bekanntlich Dr. Jenner das vorige Jahrh. in Kenntniß gesetzt; in neuester Zeit hat Auzias-Turenne in Paris und Dr. Wels in Würzburg bewiesen, daß das syphilitische Gift von Menschen auf Thiere und von diesen wieder auf Menschen übertragen werden kann.
http://www.zeno.org/Herder-1854.